Die Symptome des Kiss-Syndroms
Die Symptome des Kiss-Syndroms können wie schon zuvor berichtet
sehr vielfältig sein. Lesen Sie bitte hierzu auch unsere Erfahrungen
bei den Symptomen "So haben wir das Kiss-Syndrom bei unseren Kindern entdeckt".
Auszug aus dem
Buch KISS-Kinder
Ursachen, (Spät-)Folgen
und manualtherapeutische Behandlung frühkindlicher Asymmetrie
Ferdinand Enke
Verlag.
ISBN 3-432-27611-7
Die Schiefheit
Bei fast allen
Kindern, die wir sahen, lag eine mehr oder weniger ausgeprägte Schiefheit
vor. Das konnte nur einen Teil des Körpers betreffen - zum Beispiel
einen fixiert schräggehaltenen Kopf- oder sich über den gesamten
Organismus erstrecken. Solche Bilder pflegt man C-Skoliose zu nennen, weil
die Babies wie ein "C" daliegen.
Auffällig
bei diesen Kindern war auch, daß sie dabei noch eine "Schokoladenseite"
hatten. Sie benutzten eine Hand mehr als die andere, drehten sich lieber
über eine Seite, schliefen auf einer bestimmten Seite etc. Am Anfang
war es schwer, ein Muster zu finden. Wenn man gerade mal ein paar Dutzend
asymmetrische Babies gesehen hat, kann man noch nicht viel über die
Zusammenhänge sagen.
Im Laufe der
Zeit wurde klarer, daß bestimmte Kombinationen von Auffälligkeiten
zusammengehörten: Ein Kind, das den Kopf nach links geneigt hatte,
hielt diesen auch fast immer nach rechts gedreht. War es zu einer Asymmetrie
des Schädels
gekommen, so
war in solchen Fällen das linke Gesicht schwächer entwickelt,
die rechte Wange stärker. Eine Abplattung am Hinterkopf war meist
rechts, auch ein kahler Fleck von einseitigem Haarabrieb war dann rechts
zu erwarten.
Die Arme und
Beine wurden meist an de Innenseite des "C" weniger bewegt, aber diese
Abhängigkeit war weniger stark Auch die Hüftprobleme fanden sich
eher innen im "C", d.h. an der Konkavität der Fehlhaltung. Das kann
bis hinunter zu de Füßen gehen, wo man dann einseitig Sichelfußstellung
findet.
Viele Kinder
sind erst durch die Befund an den Füßen oder durch Asymmetrien
an den Pofalten näher untersucht worden Von da aus fand man dann die
Einschränkungen der Kopfbeweglichkeit und letzt endlich die Störung
an der oberen
Halswirbelsäule
als Auslöser des Ganzen. So stand die Asymmetrie im weitesten Sinne
am Anfang der Erkenntnis. Wie immer wenn man sich intensiv mit einem Problem
auseinandersetzt, kommt man mit tieferem Verstehen auch zu mehr und mehreren
Ausnahmen, die die Regel bestätigen: wir kennen heute Fälle,
die überhaupt keine Seitasymmetrie aufweisen und trotzdem KISS-Fälle
sind. Hierzu kommt es, wenn das Ausweichen nicht zur Seite erfolgt,
sondern nach
hinten. Diese Babies haben praktisch eine C-Skoliose nach hinten; nur nennt
man das definitionsgemäß nicht Skoliose, sondern man spricht
von einer Hyperlordose oder Opisthotonie, zu deutsch: einer übermäßigen
Rück-beugung des Rumpfes. Bei diesen Kindern
berichten die
Mütter manchmal spontan, daß sie sie nur an einer Seite stillen
kön-nen.
Diese Kleinen
sind oft auch daran zu erkennen, daß sie die meiste Abplattung am
Hinter-kopf haben, da sie ihren Kopf mit Macht gegen die Unterlage drücken.
Nicht selten findet sich aber auf unserer Standard-Röntgenaufnahme
kein beeindruckender - Befund, da man hier besser die Seitneigung als das
nach hinten Gekippte sehen kann. Hier ist es vor allem die Haltung selbst,
die schon auf den ersten Blick an die Diagnose denken läßt.
Auch hier gilt, daß man nicht vor lauter Wirbelsäule die anderen
Ursachen verges-sen sollte: es gibt z.B. Infektionen des Hirns und der
Hirnhäute, die ähnliche Haltungen verursachen. Doch meist hilft
der Verlauf, hier zu unterscheiden.
Über
die Asymmetrie hinaus
Das Behandeln
der kleinen KISS-Kinder macht klar, daß man nicht im luftleeren Raum
arbeitet, sondern ganz entscheidend auf die Kooperation der Kollegen angewiesen
ist, seien es Kinderärzte und Kinderorthopäden oder auch KrankengymnastInnen,
Kindergärtnerinnen oder GrundschullehrerInnen. Die müssen erst
einmal auf die Idee kommen, daß ein Problem mit Funktionsstörungen
der Wirbelsäule zusammenhängen könnte, daß Überhaupt
etwas nicht in Ordnung ist.
Gerade bei
den ganz kleinen Kindern ist das oft nicht so trivial, wie man am grünen
Tisch 'sitzend meinen könnte. Wie viele Babies schreien stunden- und
tagelang, ohne daß man ihnen helfen kann? Wieviele Eltern verzweifeln
dabei, neben solch einem kleinen Wicht zu sitzen und keine Idee zu haben,
wie man ihm helfen könnte?
Eine Mutter
sagte mir, sie habe ihr Kind stundenweise alleine zu Hause im Bettchen
gelassen, weil sie das ewige Geschrei einfach nicht mehr aushalten konnte,
und sei um den Block spazieren gegangen natürlich mit extrem schlechtem
Gewissen. Wie viele Kinder haben die berühmt berüchtigten "Dreimonatskoliken",
bei denen den Eltern auch nicht viel zur Hilfe an die Hand gegeben wird?
All diese Kinder
sollten zumindest auf wirbelsäulenbedingte Probleme hin untersucht
werden. Das Abtasten des Halses, die Prüfung der Drehfähigkeit
des Kopfes nach links und rechts sind keine Geheimwissenschaft. Wenn man
hier Auffälliges bemerkt hat, zieht man einen Spezialisten hinzu.
Von hier aus
haben sich diejenigen, die mit Babies und Kleinkindern zu tun haben, weiter
vorgearbeitet. Eigentlich sollte man besser "zurückgearbeitet" sagen,
da man vom Symptom "Asymmetrie" aus auf dessen Vorläufer aufmerksam
wurde. Reverse engineering nennt man das auf Englisch: Man schaut sich
eine Maschine oder eine Situation an und versucht zurück zuverfolgen,
woher das Ganze kam, wie die Maschine konzipiert ist. Ein Großteil
unserer medizinischen Erkenntnis ist so gesammelt worden.
So auch bei
KISS: nachdem wir wußten, daß viele Schreikinder auch schief
waren, schaute man sich Schreikinder, die auf den ersten Blick kaum durch
Schiefheit aufgefallen waren, daraufhin genauer an.
So ging man
dann auch bei den anderen Detailphänomenen vor, die oft bei KISS eine
Rolle spielen:
-
Reifungsprobleme
der Hüftgelenke, oft einseitig.
Hier geht viel
durcheinander, von einer oft einseitigen Verzögerung der Entwicklung
bis hin zu echten Fehlanlagen der Hüftpfanne. Voraussetzung für
eine Behandlung über die Wirbelsäule ist hier, daß man
andere Ursachen nicht bagatellisiert und aus dem Auge verliert. Auch bei
Familien, in denen Hüftprobleme gehäuft vorkommen, lohnt sich
eine Untersuchung und Behandlung eventuell gefundener Wirbelsäulenprobleme
als Begleitbehandlung. Je nach Schweregrad und Alter bei Entdeckung des
Problems ist die funktionelle Behandlung der Wirbelsäulenprobleme
ergänzend oder ersetzend zu Spreizwindel oder Abduktionsschiene zu
sehen.
-
Fehlstellungen
der Füßchen bis hin zum Sichelfuß.
Das sind schon
ganz zu Anfang auffällige Zeichen. Auch hier ist die Wirbelsäulenbehandlung
nicht Alternative, sondern Ergänzung zu anderen Verfahren. Natürlich
ist eine funktionelle Behandlung immer einer passiv wirkenden Therapie
vorzuziehen: Es ist schöner und wirksamer, eine gestörte Funktion
zu optimieren und dadurch die Fußstellung zu bessern als durch einen
Verband oder Gips den Fuß geradezustellen. Ähnliches gilt später
für die Einlagen (s.u.)
-
Schlafstörungen,
Schreien im Schlaf.
Dies umfaßt
eine Fülle von Schwierigkeiten, die den Eltern bei leichteren Fällen
oft gar nicht bewußt sind. Im Zeitalter der Einzelkinder fehlt oft
der Vergleich, und nicht wenige Eltern berichten erst auf dem Kontrollbogen,
daß ihr Kind nach der Behandlung viel ruhiger schlafe.
Gerade die
Einschlafstörungen sind ganz typisch für KISS-Kinder: "Sie findet
gar keine Ruhe im Bettchen" - "Er dreht und wendet sich andauernd und schläft
erst ein, wenn er ganz k.o. ist" - Das sind häufige Beschreibungen
der Lage durch die Eltern.
-
"Haare-Raufen",
hohe Tastempfindlichkeit des Nackens.
Wie bei etlichen
anderen hier erwähnten Symptomen auch muß dies ganz gezielt
erfragt werden. Meist berichten es die Eltern erst nachträglich, im
Vergleich vorher - nachher fällt ihnen eher etwas auf. Gerade dieses
Sich-Wehren-Gegen-Berührung ist auch ein gutes Indiz für erneut
aufgetretene Beschwerden, d.h. für eine dann notwendige Kontrolluntersuchung.
Alle diese Schwierigkeiten
müssen nicht von KISS kommen, aber meist ist es so, und KISS zu behandeln,
ist in aller Regel die einfachste Methode; so einfach, daß sich oft
der Versuch lohnt, auch wenn man sich zu Beginn nicht so ganz sicher ist,
daß man auf die richtige Fährte gestoßen war.
Was sonst
noch auffiel
Kinder, die
kaum Asymmetriesymptome haben, fallen durch andere, oft nur schwer als
wirbelsäulenbedingt einzustufende Beschwerden auf . Dazu gehören
zum Beispiel unklare Fieberschübe, Schlaf-Wachstörungen, allgemeine
motorische Unruhe.
Diese Beschwerden
sind - es sei hier nochmals betont auch von vielen anderen Ursachen auslösbar.
Man sollte erst dann von einer wirbelsäulenbedingten Problematik ausgehen,
wenn
-
andere wahrscheinliche
Ursachen ausgeschlossen sind
-
Symptome ausfindig
gemacht werden können, die auf eine Asymmetrieproblematik hindeuten
oder
-
eine Testbehandlung
deutliche Besserung brachte.
Gerade der letzte
Punkt ist oft die sicherste Basis einer Diagnose; darauf hatte vor vielen
Jahren schon einer der Großmeister der manuellen Therapie, der tschechische
Neurologe LEWIT, hingewiesen. Aber man kann sich auch darauf nicht ganz
verlassen. Wir kennen Fälle, bei denen sich Beschwerden durch manuelle
Therapie besserten, obwohl z.B. ein Tumor dahintersteckte. Es ist fast
nie so einfach, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint...
Hier geraten
wir nun in die Randgebiete. Sie sind, wie immer, nicht ganz präzise
abzugrenzen und man muß aufpassen, daß solch eine Beschreibung
nicht ausufert, zumal wenn man voll der guten Botschaft ist. Nehmen Sie
also die folgenden kurz angerissenen Fallbeschreibungen als Denkanstoß
und nicht etwa als "Beweis" für Zusammenhänge mit KISS in jedem
ähnlichen Fall.
-
Fieber
Fieberschübe
bei Kindern sind immer eine pädiatrische Herausforderung. Man wird
immer erst die gängigen Ursachen untersuchen und ausschließen,
von Atemwegsinfekten über Nieren- und Blasenentzündungen, Allergien
und anderem mehr. Erst dann kann man guten Gewissens daran denken, auch
andere Gründe für erhöhte Temperatur in Erwägung zu
ziehen.
Fehlende Veränderungen
in den Labor werten sind ein Anhaltspunkt, im Wesentlichen ist aber erst
ein bestmöglicher Ausschluß anderer Ursachen zu fordern. Dann
- und nur dann - kann man versuchen, über funktionelle Ansatzpunkte
weiterzukommen. Hinweis auf die Halswirbelsäule ist die begleitende
Asymmetrie oder andere KISS-Zeichen.
-
Sabbern
Viele "Sabberkinder"
haben das typische Halstuch um, mit dem die Eltern zu vermeiden versuchen,
daß das Hemdchen des Kindes x-mal am Tag gewechselt werden muß,
weil es wieder einmal naß ist. Der fehlende Mundschluß kann
durch Probleme der Muskelsteuerung in diesem Bereich - und damit auch im
Hals-Nackenareal - verursacht und unterhalten werden Dazu kommt dann oft
eine zwanghafte Rückbeuge des Kopfes. Bei Babies äußert
sich
das in einer Haltung "wie ein Flitzebogen nach hinten durchgebogen" - wie
eine Mutter das nannte. Bei älteren Kleinkindern, die schon anfangen
sich zu vertikalisieren, gibt dann die Brustwirbelsäule entsprechend
nach, um überhaupt ein Geradeausschauen zu ermöglichen. Diese
Kinder haben dann angeblich eine "schlaffe Haltung".
-
Schluckbeschwerden
Für diese
gilt ähnliches wie für das Sabbern. Wenn die Koordination im
Schlundbereich gestört ist, kann eine Ursache die Verspannung der
Halswirbelsäule sein. Hier ist eigentlich nur der Erfolg nach Behandlung
Indikator für einen ursächlichen Zusammenhang. Die Kinder kommen
fast nie nur deshalb zur Behandlung. Eine Besserung dieser von den Eltern
oft als Nebenprobleme empfundenen Störungen wird meist erst im Nachhinein
berichtet.
-
Lautieren und Sprechen
Spracherlernen
ist ohne exakte Kontrolle der Schlundmuskulatur unmöglich. Schon von
daher liegt ein Zusammenhang mit Steuerungsproblemen der Halsmuskulatur
nahe. Wenn die Begleitzeichen in Richtung Asymmetrie weisen, kann man daran
denken, die Halswirbelsäule in therapeutische Überlegungen mit
einzubeziehen. Gerade auch in Kombination mit einem schlechten Mundschluß
und bei Kindern, die viel sabbern, wird man eher an eine Ursache im Bereich
Hals/Schädelbasis denken.
Hier ist es
ein bißchen wie bei Schielkindern: wir haben etliche Berichte von
Kindern (sie sind meist älter als zwei Jahre), bei denen im Rahmen
einer erfolgreichen KISS-Behandlung auch das Sprechen koordinierter wurde,
wie auch das Schielen manchmal nachließ. Besonders auffällig
ist das bei der Mitbehandlung behinderter Kinder im Schulalter. Für
einen "Beweis" sind diese Fälle aber viel zu selten. Wieviel davon
auf die direkte Beeinflussung der Sprachmotorik zurückzuführen
ist, kann nur schwer von der generellen Verbesserung der Wahrnehmung und
damit der Reaktion auf das Wahrgenommene getrennt werden.
Mit jedem Kind,
das wir sehen, wird die Neugierde größer. Ich erinnere mich
an Kinder, bei denen sich eine Neurodermitis schlagartig besserte. . .
Wahrscheinlich fährt man um besten, wenn man das in die Kategorie
"Zufall" einsortiert. Auch etliche Fälle, bei denen Schielprobleme
gebessert werden konnten, sollten nicht zu überschießenden Vermutungen
mißbraucht werden. Wenn wir einmal so weit sind, daß die Untersuchung
und Behandlung der HWS-Probleme zum Standardrepertoire der Kinderärzte
gehören, wird man hier die Indikation für eine Behandlung großzügiger
fassen - und einen besseren Überblick über die Auswirkungen in
derartigen Fällen gewinnen.