Das Atlas Blockierungs-Syndrom des Säuglings und des Kleinkindes

 

Ein Bericht von Ansgild Kowél
 
 

Ich möchte über das Lebenswerk eines Mannes berichten, dessen Hauptanliegen es bei der Beschäftigung mit der Wirbelsäule in der Manuellen Therapie wurde, über die Funktionsstörungen im Bereich der oberen Kopfgelenke gesicherte und wichtige Erkenntnisse zu schaffen.

Als Vojta-Therapeutin habe ich eine hervorragende Technik zur Behandlung von Schiefhälsen und Skoliosen für mein Behandlungsrepertoire zur Verfügung gestellt bekommen, in einigen Fällen jedoch bin ich mit den Resultaten nicht zufrieden.

Seit einiger Zeit habe ich diese Kinder Herrn Dr. Gutmann aus Bad Sassendorf zugeführt, um durch seine speziellen Diagnostik- und Therapieverfahren eine Optimierung der Behandlung zu erreichen.

In der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Pädiatern und Orthopäden erreichen mich dadurch Unverständnis und wütende Appelle, und ich zitiere Herrn Dr. Gutmann: "Skepsis und Kritik in der Medizin gibt es immer da, wo die Methodik, die zur Erkenntnis geführt hat, nicht beherrscht und nachvollzogen werden kann."

Ich bat Herrn Dr. Gutmann, zu seinem Fachvortrag nach Soest, zu dem ich gerade diese Skeptiker aus meiner Umgebung einlud. Zu unserer großen Freude kamen viele Kinderärztinnen und Ärzte, viele Krankengymnasten und Manualtherapeuten, aber erwartungsgemäß nur zwei ansässige Orthopäden, die ohnehin seit Jahren mit Dr. Gutmann zusammenarbeiten.

Und hier eine Zusammenfassung des Referates:

Zu Beginn stellt Dr. Gutmann an einigen erlebten Fallbeispielen die Problematik und Dramatik vor, die sich zuvor an den Patienten innerhalb ihrer Krankengeschichte abgespielt hatte, und wie sich die teilweise schwerwiegenden Symptome durch die Tatsache einer Atlasblokkade und ihrer Behandlung in verblüffender Weise zurückbilden konnten.
Dr. Gutmann hob hervor, daß er in den Katamnesen immer wieder vorausgegangene bagatellisierte Traumata, wie Stürze aus Bettchen, Stühlchen, bei größeren Kindern Raufereien, als wichtiges Indiz für eine Atlasblockade findet.

Was führt zur Diagnose Atlasblockade?

I. Anamnese:
Geburtsmodus, frühkindliches Trauma, z.B.
a. intrauterine Lage
b. Beckenendlage, Sectio, Vacuum Extraktion
c: Frühgeburt, Zwillingsgeburt
d. hinausgezögerter Kaiserschnitt
In diesem Zusammenhang wird noch einmal auf das Geburtstrauma aufmerksam gemacht. "Es ist auch die normale Geburt kein harmloser Vorgang."
Durch die Tatsache, das es innerhalb der menschlichen Entwicklungsgeschichte zu einem Mißverhältnis zwischen der Größe des kindlichen Kopfes und dem Becken der Frau gekommen ist, ist die Atlasblockade über den mechanischen Geburtsweg bereits vorprogrammiert.

II. Überprüfung der motorischen Entwicklung:
a. Störungen in der Motorik, Sensorik hier bieten sich die Lagereaktionen in der Entwicklungskinesiologie nach Vojta an.
b. Störungen am Skelett: Schädelasymetrie C-Skoliose und S-Skoliose

III. Klinisches Bild mit folgenden vegetativen Varianten:
a. beim Säugling:
    * motorische Unruhe
    * einseitige Schlaf-Zwangshaltung
    * Kopfhalteschwäche, sich entwickelnde Asymmetrie des Kopfes und des Schädels
    * Schlafstörungen (schreit nachts unmotiviert auf)
    * Berührungsabwehr im Kopf/Nackenbereich: zentrale plötzliche Fieberanfälle, zerebrale Krämpfe
    * Gedeihstörungen
    * Rezidive im HNO-Bereich
b. beim größeren Kind:
    * motorische Unruhe
    * Kopfschmerzen, Schwindel, Lähmungserscheinungen
    * Pupillenerweiterung, Erbrechen
    * Leisungsabfall, Konzentrationsstörung
    * Rückenschmerzen, chronische Kreuzschmerzen

IV. Manuelle Diagnostik:
a. massive Schmerz- und Fluchtreaktion bei Palpation, fast ausschließlich an den Atlas-Querfortsätzen, meist deutlich seitendifferent;
b. muskuläre Fixierung und Blockierung im Bereich der Kopfgelenke bei Säuglingen und Kleinkindern ausschließlich zwischen Occiput und Atlas, Vorsicht bei ganz jungen Säuglingen, hier oft keine Blockade, sondern ältere, meist angeborene Relationsstörungen im oberen Kopfgelenk.

V. Röntgendiagnostik:
Dr. Gutmann legt größten Wrt auf eine subtile Röntgenfunktionsdiagnostik.
a. AP-Projektion bei horizontal gelagertem Kopf mit Darstellung der Os occipitales, Atlas, Axis, Foramen der A. vertebralis und ersten Brustwirbel;
b. frontale Projektion mit Darstellung von : Schädelbasis mit Sella und Klivus, des harten Gaumens und der Halswirbelsäule bis C 7.
In dieser Aufnahmetechnik liegt ein besonderes Verdienst des Dr. Gutmann.
Ob es sich dann um eine Relationsstörung oder eine aktuelle Atlasverschiebung gegenüber dem Occiput oder aber eine gehemmte Axisrotation handelt, kann nur der erfahrene Röntgenologe mit weitreichenden Kenntnissen in der Biomechanik und manuellen Diagnostik beurteilen.
 

Zur Pathogenese des klinischen Bildes

I. Störungen in der Motorik
Nimmt der Kopf eine Prädilektionsstellung ein, so veröndert sich sofort die Differenziergungsfähigkeit der motorischen Muster.
Die spinale bis cortikale Koordinantionsebene reagiert mit fehlender Anpassungsfähigkeit an die:
a. automatische Steuerung der Körperlage oder Haltung
b. die phasische Beweglichkeit
c. die menschlich artspezifische Aufrichtung

Diffezentioaldiagnostisch muß hier unterschieden werden zwischen der primären Kopfgelenkasymmetrie oder einer sekundär zentralen Störung im Sinne einer Koordinationsstörung.

II. Hirnstammkomponente
a. Aufgrund der anatomisch topographischen Situation liegt der erste Halswirbel dem Stammhinr am nächsten. In diesem Bereich wirken die sonst üblichen Hemmungsmechanismen über Rezeptoren zum ZNS häufig nicht. Das ist auch der Grund mit dafür, warum gerade die Blockierung des 1. Halswirbels und nicht irgend eines anderen Wirbels sich so unmittelbar auf das Stammhirn auswirkt.
b. Arteria vertebralis schlängelt sich in komplizierter Weise um den Atlas und versorgt Stammhirn und Kleinhirn.
c. Der Atlas grenzt unmittelbar an das Foramen Magendii, durch welches die Ventrikelflüssigkeit als Liquor cerebrospinalis in den Subarachnoidalraum abfließt. Auch dieser Raum kann eingeengt werden und führt zu meningialen Reizungen und Drucksteigerungen.

Störungspotential:
Aus der Weitergabe der Fehlinformation aus dem Atlanto-Occipitalgelenk an die Formatio-Reticularis, Vestibulum, Abducens-Kerne usw. ergibt sich auch gleichzeitig eine viscerale Beteiligung und die genannten Somato-Psychosymtome.

III Infektanfälligkeit
Lewit fand bei Jugendlichen mit chronischer Tonsillitis bei 92 % eine Kopfgelenksblockade zwischen Occiput und Atlas. Nach einer Behandlung der Blockierung sehr häufig Beschwerdefreiheit. Das gleiche gilt auch bei Säuglingen mit rezidivierenden Beschwerden im Nasen-Rachenraum.

Therapie
Die Therapie richtet sich in ihrer Technik ausschließlich nach dem Röntgenbefund. Sie besteht in einer gerichteten manuellen Impulsapplikation am Querfortsatz des Atlas in liegender Haltung bei fixiertem Köpfchen.
Wurde die Blockierung traumatisch ausgelöst, muß das Beschwerdebild unmittelbar nach der Behandlung abklingen. Ist das nicht der Fall, muß nach weiteren Ursachen geforscht werden.

Für die Krankengymnastik gilt:
Sofortige Information des behandelnden Arztes, wenn trotz intensiver KG-Behandlung keine wesentliche Verbesserung an der Schiefhalssymptomatik eintritt. Mit dem Arzt sollte dann über die Möglichkeit einer Atlasblockade gesprochen werden.
Den Vojta-Therapeuten empfiehlt Dr. Gutmann, in jedem Fall die Kooperation mit einem erfahrenen Manualtherapeuten, um eine bessere Grundlage für die erfolgreiche Anwendung der Reflexlokomotion zu erreichen.
Der Vortrag des Herrn Dr. Gutmann wurde vom Auditorium mit Interesse und großer Aufmerksamkeit verfolgt. Es schloß sich eine lebhafte Diskussion mit Fragen zu Diagnostik und Therapie an.

Bericht einer Fortbildungsveranstaltung der Ortsgruppe Soest am 13. September 1989
Ansgild Kowél, Krankengynastin, Perthes Zentrum Soest, Bleskenweg 3, 4770 Soest